Der Inklusions-Aktivist und Gründer der SOZIALHELDEN Raúl Krauthausen berät Unternehmen zum Thema Inklusion – Wie ist die aktuelle Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt und wie ließe sie sich verbessern?
Herr Krauthausen, Inklusion im Arbeitsleben – gibt es sie?
Um das zu beantworten, müsste man zunächst definieren, was Inklusion eigentlich ist, denn es gibt keine Checkliste, die sich abhaken ließe. Was man sagen kann, ist, dass der Arbeitsmarkt durchaus inklusiver werden kann. Allerdings wird das, was wir heute als Inklusion bezeichnen, in zehn Jahren etwas anderes sein als heute. Es geht eher darum, Unternehmenskulturen und Personaler:innen dafür zu gewinnen, sich dem Thema Vielfalt neu und anders zu stellen. Das bedeutet Veränderung und bei Veränderung tut sich der Arbeitsmarkt, nicht nur in Bezug auf Behinderung, noch ziemlich schwer.
Im Arbeitsmarkt gibt es vielfach noch immer hohe Hürden für Menschen mit Behinderung, auch hinsichtlich der Barrierefreiheit. Was muss sich ändern?
Ein großes, strukturelles Problem ist, dass man Menschen mit Behinderung wenig zutraut, es wird vieles ausgeschlossen, z. B., dass jemand mit Behinderung Tischler:in werden kann oder dass jemand, der blind ist, in einem Planetarium arbeiten könnte. Man sagt oft von vornherein, dass nur eine Werkstatt für behinderte Menschen als Arbeitsort in Frage kommt. In diesen Einrichtungen werden Menschen mit Behinderung wenig gefördert. Sie sitzen z. T. acht Stunden am Tag an einem Fließband, um z. B. Warndreiecke für einen Automobilkonzern zu verpacken, und erhalten dafür 1,35 € pro Stunde. Das wird als Qualifizierung für den allgemeinen Arbeitsmarkt gelabelt, es findet aber so gut wie keine Qualifizierung statt. Weniger als ein Prozent der Menschen, die in einer solchen Werkstatt arbeiten, findet den Weg von dort in den allgemeinen Markt.
Wohlfahrtsverbände, die diese Werkstätten betreiben, bekommen viel Geld vom Staat, es wird aber kaum geprüft, was mit den Geldern geschieht.
Diejenigen, die über die Budgets entscheiden, sind zu 100 Prozent Menschen ohne Behinderung.
Menschen mit Behinderung werden als billige Arbeitskräfte eingesetzt; nicht als Angestellte, sondern sogenannte ‚Beschäftigte‘. Das bedeutet, sie haben einen anderen Arbeitnehmer:innenstatus, dürfen sich z. B. nicht gewerkschaftlich organisieren, nicht streiken und haben auch keinen Anspruch auf Mindestlohn. Sie bekommen, so heißt es auch offiziell, ein Taschengeld.
Begehrt dagegen niemand auf?
Es gibt relativ wenig Menschen, die sich dagegen wehren. Menschen in den Einrichtungen fühlen sich dem oft nicht gewachsen und die, die Deutungshoheit haben, sind nicht-behinderte Menschen, Presseabteilungen der Wohlfahrtsverbände, Heimleitungen, Werkstattleitungen. Auch das öffentliche Bewusstsein scheint zu fehlen.
Das Thema Vielfalt spielt im Arbeitsmarkt eine wachsende Rolle. Wie macht sich dies für Menschen mit Behinderung bemerkbar?
Ich finde interessant, dass viele Unternehmen unseren Rat suchen, wenn es um die Frage geht, wie sie Bewerber:innen mit Vielfaltsmerkmalen am Arbeitsmarkt finden können, auch unter dem Aspekt des Fachkräftemangels. Alle, mit denen wir sprechen, sagen, sie würden ja behinderte Menschen einstellen, aber es bewirbt sich niemand. Gleichzeitig sagen uns Menschen mit Behinderung, sie schicken Hunderte von Bewerbungen, werden aber noch nicht mal eingeladen. Wo landen diese Bewerbungen?
Eine These, die wir haben, ist, dass die Anforderungen an Bewerber:innen oft sehr hoch oder dass Stellenbeschreibungen veraltet sind, sodass sich Menschen mit Behinderung die Position nicht zutrauen.
Auch ist die Barrierefreiheit im Bewerbungsverfahren meist nicht gegeben.
Wenn man z. B. ein PDF hochladen muss, wird man als blinder Mensch an diesem Punkt im Bewerbungsprozess scheitern, das bekommt aber niemand mit. Eine sehr einfache Gegenmaßnahme wäre, für Menschen mit Behinderung alternative Bewerbungsmöglichkeiten zu schaffen. Man könnte z. B. anbieten, dass sie anrufen oder eine E-Mail schicken, je nachdem, was das Unternehmen leisten kann. Alternativen erhöhen in der Regel auch die Anzahl der Bewerber:innen.
Wie ist die Situation für Akademiker:innen mit einer Behinderung?
Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist doppelt so hoch wie die von Menschen ohne Behinderung, bei gleichem akademischem Grad. Es ist oft noch immer so, dass Personaler:innen, bewusst oder unbewusst, Bewerbungen von Menschen mit Behinderung eher zur Seite legen. Sie geben Menschen ohne Behinderung den Vorzug, weil sie Berührungsängste oder Sorge haben, dass ihnen mehr Arbeit entsteht. Eine Maßnahme, dies zu ändern, könnte ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren sein. Unternehmen, die einen Schritt weiter gehen möchten, könnten aktiv mit Headhunter:innen oder in speziellen Jobbörsen oder an einem Tag der offenen Tür eines Berufsbildungswerkes auf Bewerber:innen mit Behinderung zugehen.
Gibt es staatliche Vorgaben?
Ab einer Größe von 20 Mitarbeitern müssen fünf Prozent der Belegschaft Menschen mit einer Behinderung sein, einer pro 20. Aber noch immer zahlen viele Unternehmen sogenannte Ausgleichsabgaben, weil sie dies nicht einhalten. Dies liegt zum einen daran, dass es attraktiver scheint, die Strafe zu zahlen, als die Quote zu erfüllen. Aus diesem Grund soll die Abgabe erhöht werden. Zum anderen ist die Bürokratie für Unternehmen hoch. Das kann man u. A. daran sehen, dass große Konzerne die Quoten zur Beschäftigung von behinderten Menschen eher erfüllen, sie haben ganze Abteilungen, die sich damit befassen.
Die größte Gruppe der Nullbeschäftiger besteht aus KMUs, kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Wie steht es um das Wissen der Unternehmen zu Fördermöglichkeiten?
Vielen Unternehmen ist nicht bekannt, welche Unterstützung sie vom Staat erhalten, wenn sie Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Behinderungen sind nicht alle gleich. Jemand im Rollstuhl braucht z. B. einen stufenlosen Zugang zum Arbeitsplatz, jemand der blind ist, braucht einen speziellen Computer, Gehörlose brauchen vielleicht eine:n Dolmetscher:in für Gebärdensprache – in der Regel wird dieser Mehraufwand vom Amt bezahlt.
Raúl Krauthausen ist der bekannteste Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit – und die lauteste Stimme in Deutschland, wenn es um die Durchsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung geht.
“Betrachten Sie Behinderung einfach als eine Eigenschaft wie die Haarfarbe“ ist eine seiner zentralen Botschaften, und er kämpft auf allen Plattformen – analog und digital – für Sichtbarkeit und gegen Diskriminierung.
In seinem neuen Buch wirft er grundlegende und oft unangenehme Fragen zur Inklusion in Deutschland auf, bringt seine Leser:innen dazu, sich mit ihrem eigenen Ableismus auseinanderzusetzen, und entwickelt eine Idee davon, wie Inklusion auf allen Ebenen wirklich zu leben ist.